Samstag, 29. November 2014

Wir sind gefangen in einer Scheinwelt - Platons Höhlengleichnis

Das Höhlengleichnis ist eines der bekanntesten Gleichnisse der antiken Philosophie. Es stammt von dem griechischen Philosophen Platon (428/427–348/347 v. Chr.), der es am Anfang des siebten Buches seines Dialogs Politeia von seinem Lehrer Sokrates erzählen lässt. Als Abschluss und Höhepunkt der Gleichnisreihe zählt das Höhlengleichnis zu den Grundtexten der platonischen Philosophie. Es veranschaulicht zentrale Aussagen von Platons Ontologie und Erkenntnistheorie und verdeutlicht den Sinn und die Notwendigkeit des philosophischen Bildungswegs, der als Befreiungsprozess dargestellt wird. Das Ziel ist der Aufstieg aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt der vergänglichen Dinge, die mit einer Höhle verglichen wird, in die rein geistige Welt des unwandelbaren Seins. Den Aufstieg vollzieht zwar jeder für sich, aber da man dabei Hilfe benötigt, ist es zugleich auch ein kollektives Bemühen.


Inhalt des Buches Politeia

Sokrates beschreibt eine unterirdische, höhlenartige Behausung, von der aus ein breiter Gang zur Erdoberfläche führt. In der Höhle leben Menschen, die von Kind auf ihr ganzes Leben dort als Gefangene verbracht haben. Sie sind sitzend an Schenkeln und Nacken so festgebunden, dass sie immer nur nach vorn auf die Höhlenwand blicken und ihre Köpfe nicht drehen können. Daher können sie den Ausgang, der sich hinter ihren Rücken befindet, nie erblicken und von seiner Existenz nichts wissen. Auch sich selbst und die anderen Gefangenen können sie nicht sehen; das einzige, was sie je zu Gesicht bekommen, ist die Wand.

Erhellt wird die Höhle von einem großen, fernen Feuer, das oben auf der Erde brennt und dessen Licht durch den Gang hineinscheint. Die Gefangenen sehen nur das Licht, das die Wand beleuchtet, nicht aber dessen Quelle. Auf der Wand sehen sie ihre Schatten. Auf der Erdoberfläche befindet sich zwischen dem Höhleneingang und dem Feuer eine kleine Mauer, die nicht so hoch ist, dass sie das Licht des Feuers abschirmt. Längs der Mauer tragen Menschen unterschiedliche Gegenstände hin und her, Nachbildungen menschlicher Gestalten und anderer Lebewesen aus Stein und aus Holz. Diese Gegenstände ragen über die Mauer hinaus, ihre Träger aber nicht. Manche Träger unterhalten sich miteinander, andere schweigen. Da die bewegten Gegenstände auf die Höhlenwand, der die Gefangenen zugewendet sind, Schatten werfen, können die Höhlenbewohner die bewegten Formen schattenhaft wahrnehmen. Von den Trägern ahnen sie aber nichts. Wenn jemand spricht, hallt das Echo von der Höhlenwand so zurück, als ob die Schatten sprächen. Daher meinen die Gefangenen, die Schatten könnten reden. Sie betrachten die Schatten als Lebewesen und deuten alles, was geschieht, als deren Handlungen. Das was sich auf der Wand abspielt, ist für sie die gesamte Wirklichkeit und schlechthin wahr. Sie entwickeln eine Wissenschaft von den Schatten und versuchen in deren Auftreten und Bewegungen Gesetzmäßigkeiten festzustellen und daraus Prognosen abzuleiten. Lob und Ehre spenden sie dem, der die besten Voraussagen macht. 

Nun bittet Sokrates Glaukon sich vorzustellen, was geschähe, wenn einer der Gefangenen losgebunden und genötigt würde, aufzustehen, sich umzudrehen, zum Ausgang zu schauen und sich den Gegenständen selbst, deren Schatten er bisher beobachtet hat, zuzuwenden. Diese Person wäre schmerzhaft vom Licht geblendet und verwirrt. Sie hielte die nun in ihr Blickfeld gekommenen Dinge für weniger real als die ihr vertrauten Schatten. Daher hätte sie das Bedürfnis, wieder ihre gewohnte Position einzunehmen, denn sie wäre überzeugt, nur an der Höhlenwand sei die Wirklichkeit zu finden. Gegenteiligen Belehrungen eines wohlgesinnten Befreiers würde sie keinen Glauben schenken. Wenn man den Befreiten nun mit Gewalt aus der Höhle schleppte und durch den unwegsamen und steilen Aufgang an die Oberfläche brächte, würde er sich dagegen sträuben und wäre noch verwirrter, denn er wäre vom Glanz des Sonnenlichts geblendet und könnte daher zunächst gar nichts sehen. Langsam müsste er sich an den Anblick des Neuen gewöhnen, wobei er erst Schatten, dann Spiegelbilder im Wasser und schließlich die Menschen und Dinge selbst erkennen könnte. Nach oben blickend würde er sich erst mit dem Nachthimmel vertraut machen wollen, später mit dem Tageslicht, und zuletzt würde er es wagen, die Sonne unmittelbar anzusehen und ihre Beschaffenheit wahrzunehmen. Dann könnte er auch begreifen, dass es die Sonne ist, deren Licht Schatten erzeugt. 

Nach diesen Erlebnissen und Einsichten hätte er keinerlei Bedürfnis mehr, in die Höhle zurückzukehren, sich mit der dortigen Schattenwissenschaft zu befassen und dafür von den Gefangenen belobigt zu werden. Sollte er dennoch an seinen alten Platz zurückkehren, so müsste er sich erst wieder langsam an die Finsternis der Höhle gewöhnen. Daher würde er einige Zeit bei der dort üblichen Begutachtung der Schatten schlecht abschneiden. Daraus würden die Höhlenbewohner folgern, er habe sich oben die Augen verdorben. Sie würden ihn auslachen und meinen, es könne sich offenbar nicht lohnen, die Höhle auch nur versuchsweise zu verlassen. Wenn jemand versuchte, sie zu befreien und nach oben zu führen, würden sie ihn umbringen, wenn sie könnten.


Deutung - Interpretation


Das Leben in der Höhle kann man als das gewöhnliche Dasein interpretieren. Der Mensch wird geboren, er wächst in einen geschlossenen Raum auf, er lebt in einen geschlossenen System und er ist nie über die Grenzen seiner Behausung hinausgekommen, er hat also nie irgendetwas anderes zu Gesicht bekommen außer seinem Alltagstrott. Er fühlt sich in seiner Welt wohl, was ja auch kein Wunder ist, da er ja überhaupt nichts kennt, was er mit dem vergleichen könnte was ihm geläufig ist. Wie sollte er auch wissen, dass es neben seiner Welt noch eine größere Wirklichkeit gibt, eine Außenwelt, die außerhalb seiner Vorstellungskraft liegt, die er vermissen könnte, wenn er sie sehen könnte. Wie sollte er sie sehen können, der Unwissende ist ja in seiner eigenen kleinen Behausung, seiner dunklen Realität gefesselt. Er kennt nur die Schatten der Wirklichkeit und hält das was er mit seinen Sinnen wahrnehmen kann für das ultimative, das Seiende.

In diesem Gleichnis wird die gewöhnliche Existenzweise des Menschen mit einer Höhlenwohnung (derzeitige Matrix) verglichen, in der die Menschen seit ihrer Kindheit an Schenkeln und Hals gefesselt bewegungslos auf eine Felswand der Höhle starren. Auf dieser Felswand werden lediglich Schattenbilder projeziert, die diese Höhlenbewohner als real betrachten. Dieses Gleichnis ist ein sehr gutes Beispiel für unsere derzeitige Traumexistenz, die wir unsere Welt bzw. unseren Umwelt nennen. Der unwissende Mensch hat sich von seinem wahren göttlichen Ursprung – dem göttlichen Licht – abgewandt, hält die äußeren Erscheinungen ungeprüft als absolute Wahrheit an, sieht nur mehr die Materie als Ursprung des Seins und und glaubt zutiefst, dass alle gewonnenen Erkenntnisse, die er durch diese Schattenbilder gewonnen bzw. auch noch selbst interpretiert hat, die einzige Wahrheit darstellen.

Diese Höhlenbewohner - sie gleichen uns, den schlafenden, unbewussten Menschen - halten die Schatten für die einzige Wirklichkeit und alle ihre Erkenntnisse beziehen sich auf diese Schattenergebnisse. Was diesen Höhlenbewohnern als angeblich gesicherte Erkenntnis gilt, ist lediglich das Interpretieren dieser Schatten. Die Höhlenmenschen wissen nicht einmal, dass sie in einer Höhle, also in einer scheinbar geschlossenen Matrix leben. Sie erfahren diese Höhle illusionär als eine bergende und angebliche Sicherheit gewährende Pseudo-Freiheit.

Um diese Illusion bzw. Scheinhaftigkeit dieser Höhlenexistenz aufzuheben, müßte ein Höhlenbewohner diese ganze Existenz ernsthaft Selbstständig in frage stellen und den Mut fassen, sich von den illusionären Fesseln zu befreien und sich gleichzeitig dem hellen Ausgang zuwenden. Doch das Schauen auf den lichtvollen Ausgang assoziiert der Höhlenmensch mit Schmerz, da er an das Dunkel gewöhnt ist und sohin fehlerhafte Assoziationen hegt. Dieser helle Ausgang ist nichts anderes als die innere Sonne, das innere geistige Licht, von dem man sich entfernt hat, weil man mehr und mehr den Schattenbildern ungeprüft glaubt, vielmehr glaubt man sogar einer dieser Schattenbilder selbst zu sein. Allmählich aber erkennt der sich selbst Entfesselnde, dass diese Helligkeit – sein eigener Geist - essentiell wichtig ist und die einzige Möglichkeit darstellt, zu seiner eigenen Befreiung zu gelangen.


Man ist sein ganzes Leben lang gefesselt und empfindet es als "Normal" auf einen Stuhl in einer dunklen Höhle gebunden zu sein ohne überhaupt zu wissen was eine Höhle ist. Plötzlich kommt nun völlig unbekanntes Wesen, bindet einen los und zwingt einen sich zu bewegen und die Augen vor dem Licht des Feuers zu öffnen. Was würde man empfinden, wenn nicht Angst vor dem Unbekannten, vor dem was man sein Leben lang noch nie zu Gesicht bekommen hat? Man weiß ja noch nicht mal wie man selbst aussieht. Was würde man empfinden, wenn nicht Schmerz? Man hat ja bis dato noch nie einen Fuß vor den anderen gesetzt, die Muskeln sind zurückgebildet und man ist völlig steif. Was würde man empfinden, wenn nicht Verwirrung? Man soll sich auf einmal bewegen – warum? Was will das fremde Wesen von einem? Was geschieht mit einem selbst? Schließlich würde man dann beginnen, all das was man kennt, seine eigenen Erkenntnisse also, in Frage zu stellen und nach einer anderen Wahrheit fragen wollen. Aber würde man diesem fremden Wesen wirklich bedingungslos folgen und ihm glauben oder vielleicht nicht eher, wie Platon es beschreibt, zu seinem beschränkten, vertrauten Horizont zurückkehren wollen? Nach Platon kann die erste Reaktion nur eine Flucht in die Geborgenheit sein, da die Entfesselung, die schmerzvollen Bewegungen und die ersten Blicke ins grelle Feuer nur als lebensfeindliches Chaos erscheinen würde. Deshalb kann man auch nicht von einer Befreiung des Menschen sprechen, den er will zuerst gar nicht befreit werden.

Der Entfesselte will seinen Ort der Geborgenheit zuerst nicht verlassen und das für ihn fremde Wesen, muss ihn mit Gewalt zwingen, den unebenen Weg aus der Höhle hin zur Außenwelt des Lichts zu überwinden und den beschwerlichen Weg der Erkenntnis zu gehen, der ihm noch mehr Schmerzen und Leid bereiten wird. Der Mensch steht am Ende dieses Weges am Eingang zum Licht. Dieses Licht brennt ihm in den Augen und er richtet seine Blicke zuerst nur auf die Erde, denn er ist von all dem Grellem, Neuem zunächst verblendet. Mit der Zeit aber, sieht er alles neu und mit anderen Augen. Er sieht die Spiegelungen des Himmels im Wasser und bei Nacht können seine Augen schon den Sternenhimmel erkennen. Er fängt an Ideen über die Zusammenhänge zu bekommen, er begreift, dass Spiegelungen in seiner ehemaligen Welt der Schatten nur Abbilder der originalen Welt waren. Der Entfesselte entdeckt nun für sich, dass alles was er bisher zu wissen glaubte, einem Nichtwissen gleich kommt und er denkt mit Mitleid an seine ehemaligen Leidensgenossen zurück. Der Mensch ist nun auf der Stufe der Wahrheit angelangt, er ist nach Platon im denkbarem Raum.


In Platons Gleichnis kehrt der befreite Höhlenmensch mit seiner neu gewonnen geistigen Erkenntnis in die Höhle zurück und berichtet den anderen von der Unwirklichkeit dieser Schatten, von der scheinbaren Seinswelt dieser Matrix. Aber er stösst bei seinen Mitmenschen auf Unverständnis und Ablehnung. Die Gefesselten sehen ihn sogar als bedrohlich an, da er mit seinen Erkenntnissen als Verrückt angesehen wird (was ja auch stimmt, da er dem ganzen bisherigen festgefahrenen Glauben und der damit verbundenen Werte- und Interpretations-mechanismen entrückt), wodurch die Umkehrung von der scheinbaren materiellen Ebene in die geistige Ebene von den anderen als surreal und bedrohlich angenommen wird.
Versuche mal ein tief schlafenden Menschen ruckartig zu wecken? Der wird komplett irritiert sein und vielleicht auch noch aggressiv werden.

Mit der endgültigen Gewöhnung der Augen an das Licht, richtet der Mensch seine Blicke nur auf die originale Welt, auf die Urheber der Spiegelungen im Wasser und schließlich ist er bereit direkt in die Sonne zu schauen und nach Platon die "Form des Guten" zu erkennen. Der Mensch kann nun die Sonne als die Quelle allen Lebens erkennen und die Zusammenhänge auch deuten. Der Mensch in Platons Höhlengleichnis spürt eben auch jenen Drang sein Wissen weitertragen zu müssen und er sucht den Weg zurück in die Höhle zu seinen unwissenden Brüdern. Dieser Weg ist ähnlich schwierig und schmerzvoll wie sein Aufstieg und er ist zuerst orientierungslos und kann sich nicht in der Dunkelheit des Nichtwissens zurechtfinden, die er selbst einmal als absolute Wirklichkeit ansah. Seine Brüder in der Höhle werden ihn auslachen und abwehren, denn das was er zu berichten hat übersteigt ihren Horizont. Platon vertritt an dieser Stelle auch seine Meinung über Bücher und sonstige schriftliche Lehrmittel. Er ist der Ansicht, nur dann nachhaltig lernen zu können, wenn man selbst erlebt. Im Höhlengleichnis geht Platon sogar soweit zu sagen, seine Brüder würden ihn töten, falls sie die Möglichkeit dazu hätten, da sie die neuen Erfahrungen des Entfesselten nicht als Wahr erkennen könnten, weil sie sie nicht selbst erlebt haben. Der Mensch wiederum wird nicht aufgeben das Erfahrene weitergeben zu wollen, aber er wird an der Übermacht der Unwissenheit scheitern, die ihm keinen Glauben schenken will.

Fassen wir den Mut, uns von den eigenen Fesseln zu befreien um ein freiheitlich eigenständig denkender, geistig bewusster Mensch zu werden. Wer diesen Mut hat, wird die Zusammenhänge und die Notwendigkeit der Schatten erkennen und wissen, dass er selbst der eigene Meister seines Seins ist. Er wird weder besondere Vorliebe für eine Seite, noch Verneinung für die andere Seite aufbringen, denn beide Seiten gehören zur gesamten Münze. Und vorallem wird er immer mehr alle seine Feindbilder erkennen und lieben lernen, ohne irgendetwas im imaginären Aussen verändern zu wollen.

Ein weiser Mensch ist jener, welcher sich nicht kontrollierenden, machtgierigen, neidischen Menschen unterwirft. Es geht darum, bewusst in seine eigene Kraft zu kommen und klare Erkenntnisse zu erlangen, in dem man auf seine eigene Intuition (nicht auf die Logik) hört, seinen permanenten Willen in Demut verwandelt, in Liebe, Zuversicht und Urvertrauen handelt. Dies geht nur, wenn man seinen Beobachterstatus aktiviert und erkennt, dass man nicht die körperliche Statur und auch nicht die damit assoziierte Persona ist. 

Dazu ein geniales Video erstellt aus der Kombination von Platons Höhlengleichnis mit Passagen aus dem Film Matrix:






Platons Höhlengleichnis, gekürzt


Quelle: m0rallyb4nkrupt





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